Interview mit Julia Kissina           

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Das Interview führte Vera Hilger,  Raum für Gäste


Vera Hilger: Du hast einmal gesagt, dass Du erst seit Corona Tuschezeichnungen machst, weil Du vorher diese Art von klassischem „Malen-Können“, das Du durch Deine Ausbildung gelernt hattest, abgelehnt hast. Wie kam das, dass Du diese Fähigkeiten so abgelehnt hast? Und hast Du wieder angefangen, zu zeichnen, weil man zu Hause bleiben musste und das deswegen nahe lag?


Julia Kissina: Viele Jahre lang war es peinlich zu zeichnen, und ich musste diese Fähigkeit sorgfältig verbergen. Alle um mich herum beschäftigten sich mit Medienkunst oder Installationen. Ich wollte nicht zurückbleiben. Doch während der Pandemie, als jeder mit sich allein war, verschwanden Geschichte, Mode und Moderne. Wir kehrten zu einem ursprünglichen Punkt des Daseins zurück. 

Es gab keinen sozialen oder kulturellen Druck mehr. Wir waren zwar eingesperrt, aber tatsächlich frei. Das habe ich genutzt. 

Es war das Jahr 2020.


Vera: Arbeitest Du unterwegs, auf Deinen Reisen oder machst Du da eher kleine Skizzen, die Du zu Hause ausarbeitest?


Julia: Ich mache während Reisen niemals Skizzen. Die ganze Arbeit findet im Unterbewusstsein statt, und ich nehme daran keinen aktiven Anteil. Unterwegs lese und schreibe ich viel und gehe spazieren – das hilft mir, zu denken.


Vera: Du hast Drehbuch und dramatisches Schreiben in Moskau studiert. Parallel zu Deiner bildenden Kunst hast Du auch immer geschrieben. Laufen Malen und Schreiben parallel und wenn ja, beeinflusst Dich das, was Du gerade schreibst, thematisch in Deinen Bildern?


Julia: Das sind zwei völlig unterschiedliche Tätigkeiten, zwei verschiedene Sprachen. Aber es gibt gemeinsame Wahrnehmungsgesetze, die man sich zunutze machen kann: Atmosphäre, Handlung, Figuren, Spannung und Dramaturgie. Es gibt eine Geschichte, 

die erzählt werden muss.


Vera: Würdest Du selbst sagen, dass es einen Schwerpunkt in Deinem künstlerischen Schaffen gibt?


Julia: Mein Hauptthema ist der Konflikt zwischen Kultur und Natur in den unterschiedlichsten Bedeutungen. Aber zuerst denke ich an unsere menschliche Natur. Mit Hilfe des historischen Gedächtnisses, von Ritualen, Tabus, Religion und Ideologie kämpfen wir ständig gegen das Tier in uns. Manchmal triumphiert die Kultur – Öffentlichkeit, Vereinbarungen, soziale Normen. Manchmal gewinnt das Tier – Aggression, Angst, Stammesloyalität, Liebe und andere Instinkte. Zwischen diesen beiden Polen entstehen Akte der Transgression – Kunst ist einer davon, Politik ein anderer. Hier eröffnen sich Möglichkeiten von Souveränität, Freiheit und einem Leben jenseits von Normen und Begrenzungen.


Vera: Du sagtest einmal in einem Interview, dass Du es nicht sehr exotisch findest, wenn Russen in Deutschland leben und andersherum. Was war der Grund, ausgerechnet nach Deutschland zu gehen? In Italien ist es doch viel wärmer :-)


Julia: Ja, in Deutschland ist es kälter als in Italien, aber dafür ist es viel spannender. In Italien hat die zeitgenössische Kultur keinen Platz, es ist ein Museum. In Deutschland hingegen gibt es Luft zum Atmen, Spannung, Reflexion, Tiefe, Neugier. Es gibt viele Ebenen der Wahrnehmung, die mir nahe stehen, sowie Ruhe und Konzentration. Deshalb fühle ich mich hier wie zu Hause.


Vera: Gibt es für Dich einen wesentlichen Unterschied zwischen der russischen und deutschen Mentalität und der Kultur in den beiden Ländern? Oder ist das eher ein Klischee?


Julia: Die russische Gesellschaft ist viel bunter und besteht aus vielen voneinander entfernten Ethnien und widersprüchlichen Kulturen. Aber im Allgemeinen sind das überwindbare Kleinigkeiten, die nur den Alltag, die Routine und die Rituale betreffen.


Vera: Du sagtest mal, dass Du gerne mit Tieren sprichst. Woher kommt diese starke Hingezogenheit zu Tieren, bist Du mit welchen aufgewachsen? Und gibt es Tiere in Deinen Bildern, die eine spezielle Bedeutung für Dich haben und als Symbol für etwas stehen?


Julia: Mein Totemtier ist der Hund. In meinem Pantheon nimmt er die zentrale Rolle ein. Aber auch andere Tiere rufen in mir religiöse Gefühle hervor. Sie bleiben unschuldig, selbst wenn sie sich gegenseitig fressen. Im Kanon jeder Religion sind sie heilig. In jeder Mythologie besitzen sie übernatürliche Eigenschaften. Im Gegensatz zu uns sind sie vollkommen. Sie können sich nicht selbst als Objekt wahrnehmen, sondern existieren als kristallreines Wesen, als Ding an sich. Sie lügen nicht, täuschen nicht, und sie haben keine Ideologie. Genau deshalb bleiben sie immer der moralische Maßstab. Die meisten von ihnen sind außergewöhnlich schön. Ich kann tatsächlich stundenlang Kühe oder Schlangen beobachten – das ist wie das Meer zu betrachten: Man wird nie müde davon.


Vera: Deine Bilder malst Du, wie Du sagtest, komplett aus dem Kopf und konzentrierst Dich dabei sehr. Du musst also wissen, wo die hellste Stelle am Ende sein soll und dort das Papier stehen lassen, weil Du ohne Deckweiss arbeitest. Entwickelt sich die Szene einer Zeichnung trotzdem auch spontan oder hast Du alles schon im Kopf?


Julia: Der Plan existiert im Voraus, ist jedoch eher allgemein gehalten. Ich beginne nicht zu zeichnen, wenn „das Papier nicht leuchtet“. Das ist eine Metapher. Da wir in erster Linie in Sprachbegriffen denken, spielt diese für mich eine entscheidende Rolle. Wenn ich beginne, arbeite ich aus der Fülle heraus, aus der Enge und dem Überfluss an Gedanken und Ideen. Daraus schaffe ich Ordnung, Verdichtungen und Synkopen, ich breche den visuellen und narrativen Rhythmus. Was die weißen Stellen betrifft – sie sind wie Pausen in der Musik. Weiße Stellen sind Licht, Freiheit. Die Details entstehen im Prozess.


Vera: Ist für Dich eine Rückkehr - oder Wiederaufnahme - zur konzeptuellen Kunst, mit der Du nach dem Studium in München beschäftigt warst, eine Option? Denkst Du noch über konzeptuelle Ansätze nach?


Julia: Konzeptkunst interessiert mich nicht mehr. Sobald sie zum festen Bestandteil der Kunstbildung und ein Werkzeug der Massenkultur wurde, verlor sie ihre Enigma. Es ist eine sehr bequeme Methode, eine Struktur. Konzeptkunstwerke sind leicht zu verstehen und lassen sich gut erzählen. Obwohl konzeptuelle Praktiken unterhalten, erfreuen oder lehren können, führen sie fast nie zum Wunder. Und das Wunder ist das Einzige, das wir nicht infrage stellen.


Vera: Du lebst vorwiegend in Berlin, einer Großstadt. Käme für Dich ein Leben auf dem Lande - auch wegen des Kontakts zu Tieren, der da eher gegeben wäre - in Frage?


Julia: Ich verbringe oft Zeit in der Natur, wo es viele Tiere gibt, aber dauerhaft auf dem Land zu leben, wäre nichts für mich – ich bin ein Stadttier.


Vera: Du sagtest im Interview, dass Dich Berlin an das Moskau der 80ger Jahre erinnert, eine sehr offene und lebendige Szene. Dieses Interview, auf das ich mich beziehe, ist von 2017. Häufig hört man mittlerweile, dass Berlin so teuer geworden sei und für Künstler nicht mehr zugänglich. Siehst Du das auch so, hat sich die Atmosphäre für Dich in Berlin seither wesentlich verändert?


Julia: Berlin hat sich unglaublich verändert, es ist schmutziger und unsicherer geworden, Wohnungen sind teurer, die Gelder für Kultur wurden gekürzt. Institutionen existieren für sich selbst – das ist das korporative Prinzip. Dort fließt Geld und es wird Propaganda betrieben. Kunst kriecht irgendwo am Boden. Auch die Ausstellungspolitik hat sich verändert. Zum Beispiel gehe ich nicht mehr in den Gropius Bau und einige andere Institutionen. Aber Berlin hat sich immer verändert, und dennoch gibt es in diesem Chaos sehr interessante Ecken.


Vera: Du hast auch als Gastprofessorin für Fotografie und Medien an der Karlsruher Universität für Kunst und Design gelehrt und an der Rodchenko Art School in Moscow. Welche Tipps würdest Du heute einem jungen Künstler geben?


Julia: Der wichtigste Rat: Geh gegen den Wind – bediene keine Themen, die von der gefragten Agenda diktiert werden. Folge nicht der Masse. Vertraue nicht der Presse. Und vor allem: Hoffe auf nichts. Wenn du alle Hoffnung aufgegeben hast, bist du frei. Du musst nicht mehr an Karriere denken und Trends hinterherjagen. Jetzt bist du ein glücklicher Mensch. Und vielleicht kannst du dich dem nähern, was Hölderlin das Zentrum der Poesie nannte.


Vera: Du warst Teil der Moskauer Konzeptualisten Bewegung und literarischen Untergrund-Bewegung Samizdat. Im Laufe Deines Lebens hast Du Verknüpfungen geschaffen zwischen der literarischen Szene in New York und der deutsche Szene. So hast Du im Jahr 2018 in Berlin das „Urban Dictionnary Literaturfest“ veranstaltet und dazu 26 sehr namhafte Autoren und Kulturleute aus New York und Berlin eingeladen. 

Das war eine grosse Nummer, Du bist also auch als Moderatorin und Kuratorin unterwegs. Hast Du weitere Projekte in Planung?


Julia: Ich habe jetzt ein Projekt, das Phantom Gallery heißt. Es ist ein Popup, ein ephemeres Projekt, wie der Name schon sagt. 

Diese Galerie existiert nicht wirklich. Manchmal taucht sie auf, und ich mache Ausstellungen.



Interview with Julia Kissina 


Vera Hilger: You once said that you only started making ink drawings during the pandemic because before that, you had rejected this kind of classical painting skill that you had learned through your education. 

Why did you reject it? And did you start drawing again because you had to stay at home, and it was a natural thing to do?


Julia Kissina: For many years, drawing felt embarrassing, and I had to carefully hide this skill. Everyone around me was engaged in media art or installations. I didn’t want to be left behind. But during the pandemic, when everyone was alone with themselves, 

history, fashion, and modernity disappeared. We returned to a primordial state of existence. There was no more social or cultural pressure. We were locked in, yet truly free. I took advantage of that. It was the year 2020.


Vera: Do you work while traveling, or do you just make small sketches that you develop at home?


Julia: I never sketch while traveling. All the work happens in the subconscious, and I don’t take an active part in it. 

While traveling, I read a lot, write, and take walks—that helps me think.


Vera: You studied screenwriting and dramatic writing in Moscow. Alongside your visual art, you have always written. Do painting and writing run parallel, and if so, does what you’re currently writing influence your paintings thematically?


Julia: They are two completely different activities, two different languages. But there are common principles of perception that can be used: atmosphere, action, characters, tension, and dramaturgy. There is always a story that needs to be told.


Vera: Would you say that there is a central theme in your artistic work?


Julia: My main theme is the conflict between culture and nature in its many meanings. But first and foremost, I think about human nature. Through historical memory, rituals, taboos, religion, and ideology, we are constantly fighting against the animal within us. Sometimes culture triumphs—public life, agreements, social norms. Sometimes the animal wins—aggression, fear, tribal loyalty, love, and other instincts. Acts of transgression arise between these two poles—art is one of them, politics is another. Here, possibilities of sovereignty, freedom, and a life beyond norms and limitations open up.


Vera: You once said in an interview that you don’t find it particularly exotic for Russians to live in Germany and vice versa. 

Why did you choose Germany specifically? Italy is much warmer.


Julia: Yes, Germany is colder than Italy, but it is much more exciting. In Italy, contemporary culture has no place—it’s a museum. 

In Germany there is room to breathe, tension, reflection, depth, curiosity. There are many layers of perception that resonate with me, 

as well as a sense of calm and focus. That’s why I feel at home here.


Vera: Do you see a fundamental difference between Russian and German mentality and culture, or is that just a cliché?


Julia: Russian society is much more diverse and consists of many distant ethnicities and contradictory cultures. But in general, 

these are minor differences that only affect everyday life, routines, and rituals.


Vera: You once said that you like talking to animals. Where does this strong connection to animals come from? Did you grow up with them? And do animals in your work have a special meaning or symbolize something for you?


Julia: My totem animal is the dog. In my personal pantheon, it holds the central role. But other animals also evoke religious feelings 

in me. They remain innocent even when they eat each other. In the canon of every religion, they are sacred. In every mythology, 

they have supernatural qualities. Unlike us, they are complete. They cannot perceive themselves as objects; they exist as pure beings, as things in themselves. They don’t lie, deceive, or have ideology. That’s precisely why they remain a moral standard. Most of them are extraordinarily beautiful. I can actually watch cows or snakes for hours—it’s like looking at the sea. You never get tired of it.


Vera: You said that you work entirely from your head and focus intensely while doing so. So you must know in advance where the brightest spot should be and leave the paper blank there since you don’t use white paint. Does a drawing scene still develop spontaneously, or do you already have everything planned in your mind?


Julia: The plan exists in advance but in a general sense. I don’t start drawing if the paper „doesn’t glow“. That’s a metaphor. Since we primarily think in linguistic terms, this metaphor is crucial to me. When I start, I work out of abundance—from the tightness and overflow of thoughts and ideas. From that, I create order, density, and syncopation, breaking the visual and narrative rhythm. 

As for the white areas, they are like pauses in music. White areas are light, freedom. Details emerge in the process.


Vera: Would returning to conceptual art, which you worked on after your studies in Munich, be an option for you? 

Do you still think about conceptual approaches?


Julia: Conceptual art no longer interests me. As soon as it became an integral part of art education and a tool of mass culture, 

it lost its enigma. It’s a very convenient method, a structure. Conceptual artworks are easy to understand and easy to talk about. Although conceptual practices can entertain, delight, or educate, they almost never lead to wonder. And wonder is the only thing that we do not question.


Vera: You live mainly in Berlin, a big city. Would living in the countryside ever be an option for you, especially since it would allow for more contact with animals?


Julia: I spend a lot of time in nature, where there are many animals, but living permanently in the countryside wouldn’t be for me—I’m a city animal.


Vera: In an interview, you said that Berlin reminds you of Moscow in the 1980s, with a very open and vibrant scene. The interview I’m referring to is from 2017. Nowadays, people often say that Berlin has become too expensive and inaccessible for artists. 

Do you see it that way? Has the atmosphere in Berlin changed significantly for you?


Julia: Berlin has changed incredibly. It has become dirtier and less safe; apartments are more expensive, and funding for culture has been cut. Institutions exist for themselves—that’s the corporate principle. Money flows there, and propaganda is spread. Art crawls somewhere at the bottom. Exhibition policies have also changed. For example, I no longer go to Gropius Bau and some other institutions. But Berlin has always been changing, and despite the chaos, there are still very interesting corners.


Vera: You have also taught as a visiting professor of photography and media at the Karlsruhe University of Arts and Design and at the Rodchenko Art School in Moscow. What advice would you give to a young artist today?


Julia: The most important advice: go against the wind—don’t cater to topics dictated by the current agenda. Don’t follow the crowd. Don’t trust the press. And most importantly: hope for nothing. Once you have given up all hope, you are free. You no longer have to think about a career or chase trends. Now you are a happy person. And perhaps you can come closer to what Hölderlin called the center of poetry.


Vera: You were part of the Moscow Conceptualist movement and the underground literary movement Samizdat. Over the years, you have built connections between the literary scene in New York and the German scene. In 2018, you organized the Urban Dictionary Literature Festival in Berlin, inviting 26 renowned authors and cultural figures from New York  and Berlin. That was a big deal, so you also work as a moderator and curator. Do you have any new projects planned?


Julia: I have a project now called Phantom Gallery. It’s a pop-up, an ephemeral project, as the name suggests. This gallery doesn’t really exist. Sometimes it appears, and I create exhibitions.